Bei dem nachfolgenden Artikel handelt es sich um eine Doppel-Buchbesprechung, die im Februar 1996 in der Mainzer Fachschaftszeitung Physilis erschienen ist. Die wesentlichen Differenzen in der historischen Einschätzung sind bis heute nicht überbrückt worden – auf das Eintreffen meiner Vermutung, dass beide Bücher bald als veraltet gelten würden, warte ich noch. Die Tatsache, dass sich die anhaltende Kontroverse weiterhin zwischen den in den beiden besprochenen Büchern abgesteckten Positionen bewegt, rechtfertigt die Wiederveröffentlichung im Web.
Das Gegenteil einer richtigen Behauptung ist eine falsche Behauptung. Aber das Gegenteil einer tiefen Wahrheit kann wieder eine tiefe Wahrheit sein.
Niels Bohr
Eine Doppelbuchbesprechung zweier neuerer Heisenberg-Biographien:
Thomas Powers: Heisenberg's War [1]
David Cassidy: Uncertainty [2]
Hat der Physiker Werner Heisenberg während des Dutzendjährigen Reiches blind die Doktrin des NS-Regimes übernommen? Hat er mit NS-Funktionären gemeinsame Sache gemacht, obwohl oder gerade weil er von gewissen Vertretern der sog. „deutschen Physik“ offen angefeindet wurde? Und: Hat er versucht, den Bau einer Kernwaffe voranzutreiben, um damit die Kriegsentscheidung herbeizuführen? Oder hat er etwa einen bürokratischen „Krieg“ gegen das Regime geführt und ein solches Projekt im Keime erstickt? Diese seit 50 Jahren äußerst kontrovers diskutierten Fragen haben den Mitbegründer der Quantenmechanik (QM) für Historiker interessanter gemacht als jeden anderen Physiker dieses Jahrhunderts. Eine abschließende Bewertung scheint nicht in Sicht, wie ein Blick auf zwei neuere Werke zeigt.
Der provozierende Titel und ein ebenso reißerischer Untertitel laden geradezu zu einer Fehleinschätzung ein1. Gemeint sind statt etwaige Kriegsunterstützungen Heisenbergs vielmehr ein angeblicher „Krieg“ gegen die deutschen Behörden. Thomas Powers kommt nach eingehender Recherche des umfangreichen Quellenmaterials zu dem Schluß, daß Heisenberg seine wissenschaftliche Autorität und die Unwissenheit der Nazi-Behörden ausgenutzt hat, um den Bau einer Atomwaffe zu vereiteln.
Unbestreitbare Tatsache ist, daß die deutschen Bestrebungen was den Bau eines „Atommeilers“ oder gar einer Atombombe anbelangte während des Krieges im Anfangsstadium stecken geblieben sind. Unbestreitbar ist zwar auch, daß die deutschen Physiker nicht mit entsprechenden Bemühungen auf der Gegnerseite gerechnet hatten. Doch ob es noch andere Gründe gab, keine so aberwitzigen Bemühungen wie beim deutschen Raketenprojekt zu unternehmen, dies ist die Frage über die Historiker seit 50 Jahren intensive Quellenexegese betreiben. Seit Samuel Goudsmit 1947 den deutschen Kernforschern organisatorische und wissenschaftliche Unfähigkeit, gegenseitiges Konkurrenzdenken und Machthunger unterstellte [3] gab es immer wieder temperamentvolle Anschuldigungen und wohlwollende Verteidigungen.
Power's Buch fällt in die letzte Sparte. Das Ausbleiben der deutschen „Wunderwaffe“ wird damit erklärt, daß die entscheidenden Wissenschaftler (also allen voran Heisenberg) ihren ahnungslosen Vorgesetzten in den Ministerien die Unmöglichkeit einer Atomwaffe vorgaukelten. Die Argumentationskette beruht zwar lediglich auf Indizien, jedoch schafft es der Autor, ein plausibles Bild von Intrigen, Mißverständnissen und subtilen „Sabotageakten“ zu zeichnen. Selbst einer kritischen überprüfung hält dieses Bild weitestgehend stand. Es unterscheidet sich in seiner fast durchweg positiven Bewertung Heisenbergs von den meisten anderen Arbeiten und hebt sich sogar deutlich von Heisenbergs selbstgerechter Autobiographie [4] ab, weil es klar Stellung bezieht wo der schlechte Deutschschüler Heisenberg selbst chronisch mißverständlich wurde. Nebenher lernt der Leser noch viel interessante Geschichte; so zum Beispiel über die Methoden amerikanischer Kriegsberichterstattung, über ein geplantes Attentat auf Heisenberg und über das Manhattan Project. All dies macht Heisenbergs Krieg zu einem zwar mit Vorsicht zu genießenden, aber dennoch sehr empfehlenswerten Werk.
…lautet der vielschichtig gemeinte Originaltitel David Cassidy's Beitrag zur Debatte. Im Gegensatz zu [1] wird hier versucht, einen Gesamtlebenslauf vorzulegen; es verwundert jedoch nicht, daß das Hauptaugenmerk denselben Fragestellungen und demselben Lebensabschnitt gilt, auf die sich Thomas Powers beschränkt. übersetzt man uncertainty mit Unbestimmtheit, so meint man damit Heisenbergs bekannteste Entdeckung. übersetzt man es mit Unsicherheit so hat man laut Cassidy den entscheidendsten Wesenszug aus diesem komplexen Charakter herausdestilliert.
Vorsichtig geht der Autor zu Werke und durchleuchtet kritisch Heisenbergs Verhalten während der NS-Diktatur. Um es durchsichtiger erscheinen zu lassen stellt er es in das Gegenlicht der Jugendjahre, als Heisenberg einen geradezu übernatürlichen Ehrgeiz entfaltete. Sehr hautnah wird dabei der schmerzhafte Entwicklungsprozeß der QM erzählt, der sich doch so stark von der axiomatischen Art unterscheidet, wie wir sie heute erlernen. So gut es noch geht, ohne historische Akkuratesse zu verlieren, werden die langen Diskussionen um die richtige Interpretation der QM dem Leser lebhaft vor Augen geführt. Dabei bekommt er tiefere Einblick als sie die Kulissen der physikalischen Geschichte gewöhnlich zulassen und erfährt, wie leicht solche Debatten auch in persönlichen Angriffen eskalieren konnten.
Dieses Werk besticht vor allem durch seine schonungslose, jedoch feinfühlige und jeglicher Sensationsgier abschwörende Zeichnung Werner Heisenbergs Wesen. Obwohl recht weltoffen und allem aufgeschlossen, war Heisenberg bisweilen fürchterlich naiv. Wie, so muß sich der Leser unweigerlich fragen, konnte er nur einen Gedanken daran verschwenden freiwillig an einem 'Wehrsportlager' teilzunehmen, „um einmal die Politik etwas näher kennenzulernen“ und dann, als er endlich 'dabei' war, schreiben: „…der Dienst selbst macht mir viel Freude. Es ist schön, einmal gar nicht nachdenken zu brauchen, was zu tun ist, und nur zu gehorchen.“ Solche und ähnliche krasse Fehleinschätzungen Heisenbergs sind es, die bei seiner Um- und Nachwelt immer wieder für Mißverständnisse gesorgt haben.
In seiner sorgfältigen Analyse kommt Cassidy zu einem eindeutigen Schluß: Nichts rechtfertigt die These, daß Heisenberg und seine Mitarbeiter das Uranprojekt verzögert hätten – ja es ist sogar zu fragen, ob die Aussage, sie hätten dies getan, nicht eine grobe überschätzung ihrer Möglichkeiten darstellt. Er vergleicht die Situation mit der Oppenheimers, dessen Hauptantrieb beim Bau der amerikanischen Atombombe war, seine Regierung und seine Landsleute vom Wert der modernen Physik zu überzeugen.
Auch bei einem so sorgfältigen Werk bleiben mitunter noch Wünsche offen. Da ein Großteil der Leserschaft wohl aus Physikern besteht wäre es interessant gewesen, etwas tiefergehend auf einige historische Modelle einzugehen und nicht nur lang und breit den Streit um sie darzulegen. So bleiben das Heisenbergsche Rumpfmodell oder die BKS-Theorie äußerst schemenhaft. Obwohl sie häufig erwähnt werden lernt der interessierte Leser kaum, um was es dabei eigentlich geht – ein Schönheitsfehler, der freilich dem ansonsten uneingeschränkt empfehlenswerten Buch kaum einen Abbruch tut.
Hier liegen dem an der Geschichte der Physik interessierten Leser nun also zwei Werke vor, die beide einen unterschwelligen Anspruch auf das letzte Wort in der Sache W. K. Heisenberg geltend machen. Die Urteile, die sie fällen, könnten jedoch kaum unterschiedlicher ausfallen: Malt der Publizist Powers mit dickem Pinsel und grellen Farben das Bild eines zielstrebigen und gewissenvollen Saboteurs2 so skizziert der Wissenschaftshistoriker Cassidy mit viel Fingerspitzengefühl vorsichtig einen Heisenberg, der nach Beweggründen handelte, die wohl nie vollständig rational waren und höchstens psychologisch zu erklären sind.
Die Beurteilung Heisenbergs hat sich seit mehr als 50 Jahren als besonders schwierig erwiesen und ist weiterhin heftig umstritten3. Komplementär (um das Bohrsche Wort zu gebrauchen) sind die beiden Standpunkte gewiss nicht – sie schließen sich gegenseitig aus. Welcher nun der richtige und welcher der falsche ist, das aus dem Kaffeesatz der Geschichte zu lesen bleibt also künftigen Generationen von Historikern überlassen und es ist zu erwarten, daß beide Werke dann als ebenso veraltet und unvollkommen gelten werden wie heutzutage Goudsmits Wutausbruch Alsos oder Jungks naives Verteidigungsplädoyer Heller als tausend Sonnen [6].
Richy B. Kreckel
[1] Thomas Powers: Heisenberg's Krieg – Die Geheimgeschichte der deutschen Atombombe (Originaltitel: Heisenberg's War – The secret History of the German Bomb)
[2] David C. Cassidy: Werner Heisenberg – Leben und Werk (Originaltitel: Uncertainty – The Life and Science of Werner Heisenberg)
[3] Samuel A. Goudsmit: Alsos, New York 1947
[4] Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze – Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1969
[5] Operation Epsilon: the Farm Hall Transcripts, Berkeley 1993
[6] Robert Jungk: Heller als tausend Sonnen – Das Schicksal der Atomforscher, Wien 1956
1Mir selbst wurde das Buch von dem
(selbsternannten) amerikanischen Wissenschaftshistoriker James Gleick
empfohlen als Sammlung neuen Beweismaterials für Heisenbergs
Kriegsbemühungen. Das passiert, wenn man von einem Buch nur den
Schutzumschlag liest!
2Es ist dieser These wenig
zuträglich, daß auch der Vater der H-Bombe Edward Teller sich diese
Räson zu eigen gemacht hat und neuerdings vehement
propagiert.
3Daran konnte interessanterweise nicht
einmal die nach der Herausgabe der beiden besprochenen Arbeiten
erfolgte Veröffentlichung der Farm Hall Transcripts etwas
ändern. [5] Diese Aufzeichnungen der
Gespräche, die die 10 deutschen Physiker Heisenberg, v. Laue,
v. Weizsäcker, Hahn u. a. 1945 in britischer Gefangenschaft führten,
haben das ambivalente Bild kaum schärfer gemacht – was freilich
auch daran liegt, daß schon vor der eigentlichen Veröffentlichung
1993 große Teile „durchgesickert“ sind und in beide
besprochene Arbeiten eingegangen sind.}